Neue Rennstrecke, neue Herausforderung, meine Strategie
Zur Rennstrecke fahren, Streckenlayout anschauen, Motorrad ausladen, Lederkombi anziehen und losfahren. Etwa so sieht es bei mir aus, wenn ich mich mit dem Motorrad auf eine Rennstrecke wage, auf der ich vorher noch nie war. Naja – jedenfalls Fast. Denn vor, nach und zwischen diesen einzelnen Schritten liegen natürlich noch ein paar weitere Vorbereitungsarbeiten damit sich das Gefühl des "Verlorenseins" im ersten Turn wenigstens etwas in Grenzen hält. Wie ich mich auf für mich neue Strecken herantaste, diese Vorgehensweise hat sich in den letzten 10 Monaten, in denen ich doch ganze 15 neue Rennstrecken kennenlernen durfte, entwickelt und gefestigt.
...und da der Beitrag länger geworden ist als eigentlich gewollt, hier eine kurze Übersicht meiner einzelnen Schritte für eine sinnvolle Vorbereitung auf eine neue Strecke:
Die Streckenauswahl – «Ja, ich will!»
Das Layout der Rennstrecke: Analysieren, vergleichen, verstehen
Vergleiche mit bereits bekannten Rennstrecken – adaptiere dein Wissen
Onboard Videos Part 1 – erste Eindrücke der Rennstrecke & Linienwahl
Onboard Videos Part 1 – Blickpunkte finden
Tipps vom Profi: Worauf sollte ich achten?
Trackwalk vor dem ersten Turn
Der erste Turn: Werfe alles in die Tonne, was ich vorher gesagt habe
Rückblick nach dem ersten Halbtag
1. Die Streckenauswahl – «Ja, ich will!»
Natürlich fängt erstmal alles damit an, überhaupt mal "Ja" zu sagen zu einer neuen Strecke. Ganz zu Beginn konnte ich das natürlich kaum einschätzen, hatte keine Anhaltspunkte dazu, wie ich beurteilen sollte, ob ich auf einer Rennstrecke fahren möchte oder nicht. Inzwischen achte ich hierbei vor allem darauf, ob die Strecke mir im Sinne meiner Ziele etwas bringt. Ist das Track-Layout technisch oder doch eher schnell? Gleicht die Strecke vielleicht sogar einer Strecke, die dieses Jahr auf dem Kalender des SuperCups ist – oder ist es ganz einfach eine Rennstrecke, die aus welchen Gründen auch immer auf der Bucketlist steht? Natürlich spielen auch Faktoren wie Sicherheit, Preis und Distanz eine Rolle. Wie weit ist die Anreise, wie teuer ist der Event, wie ist das Sicherheitslevel der Strecke im Sinne von Auslaufzonen und Streckenbeschaffenheit? Ist das Resultat all dieser Fragen ein «Ja, ich will!», geht's voller Vorfreude zur Anmeldung und dann zur effektiven Vorbereitung.
2. Das Layout der Rennstrecke: Analysieren, vergleichen, verstehen
Als erstes lade ich mir die aktuelle Karte des Streckenverlaufs, die "Trackmap" herunter. Da ich meistens mit Speer Racing unterwegs bin, eignet sich die Datei perfekt, die in der App des Veranstalters hinterlegt ist. Da bin ich sicher, dass allfällige Varianten des Layouts (zusätzliche Schikanen, Abkürzungen, etc.) richtig vermerkt sind. Am Layout der Strecke erkennt man typische Stellen wie enge oder weite Schikanen, langgezogene Kurven, Kurvenkombinationen wie doppelte Kurven in dieselbe Richtung. Die Längen von Start-/Ziel- und Gegengeraden sind ersichtlich und ich gewinne einen ersten Eindruck davon, was mich auf der jeweiligen Strecke erwartet.
3. Vergleiche mit bereits bekannten Rennstrecken – adaptiere dein Wissen
Zusätzlich zur Trackmap kann es hilfreich sein, die Strecke auch einfach mal zu googeln – wie breit ist die Strecke? Erwarten einen starke Höhenunterschiede, Ups & Downs? Wenn ich mir damit zusätzlich ein Bild der Strecke gemacht habe, versuche ich, Vergleiche zu finden. Wo bin ich einer ähnlichen Schikane bereits einmal begegnet? Wie bin ich die "schnelle, langgezogene Linkskurve" auf einer anderen Strecke angegangen – wo lagen da meine Schwierigkeiten und wie habe ich diese überwunden?
Mit den Vergleichen im Hinterkopf zeichne ich als ersten Entwurf auf der Trackmap meine "geschätzte Ideallinie" ein.
4. Onboard Videos Part 1 – erste Eindrücke der Rennstrecke & Linienwahl
Nein, ich habe mich nicht vertan. Natürlich schaue ich hier und da auch bereits vorher im ganzen Vorbereitungsprozess ein Onboardvideo, vor allem wenn es darum geht, zu entscheiden, ob ich auf einer Rennstrecke überhaupt fahren möchte. Aber so ganz bewusst widme ich mich den Videos erst, nachdem ich die Strecke auf dem Papier kennengelernt habe. Mag für andere in anderer Reihenfolge besser funktionieren – ich persönlich muss die Trackmap genau im Kopf haben, um in einem Onboardvideo überhaupt verstehen zu können, was ich da sehe und nicht nur Sound und gutes Bildmaterial zu geniessen (was natürlich auch cool ist. Don't get me wrong).
Ich schaue mir also Onboardvideos an, die in der Linienwahl möglichst nahe an die Linie herankommen, die ich mit der Krämer GP2-R anpeile. Dies entspricht einer eher runden 600er-Linie, keinesfalls einer spitzen Linie, wie sie die "grossen Jungs" (und Mädels) mit den 1000ccm-Motorrädern fahren.
Ich vergleiche meine "theoretische Linie" mit derjenigen des Onboardvideos, versuche Unterschiede zu verstehen und zu notieren. Denn, nein, nur weil jemand anderes eine andere Linie fährt, ist die eigene nicht unbedingt falsch.
5. Onboard Videos Part 1 – Blickpunkte finden
Ja, ich geb's zu. Bei Beispiel Jerez sind mindestens 50% der Views auf dem Onboardvideo von Lukas Tulovic von mir. Und zwar nicht, weil ich mir die 1000er-Linie merken wollte, sondern weil die Perspektive perfekt ist, um sich mal gewisse Ansätze für Markierungen und Blickführung herauszupicken. Im Video kann man zwar (oh Wunder) nicht um die Kurve schauen, dennoch sind gewisse Aufhänger im Blickfeld für mich persönlich wichtig, damit ich eine bessere Orientierung auf der Strecke habe. Nicht zuletzt auch, weil die Blickführung meine persönliche Schwachstelle ist. Die Umgebung zu kennen, das gibt mir Vertrauen, um weit in die Kurve hineinblicken zu können – was dieses Vertrauen mit meinem Fahrstil macht, seht ihr auf den folgenden Bildern (erster Trackday auf der weissen Krämer HKR EVO2S im Vergleich zum Renntraining in Barcelona, ein halbes Jahr später, auf der Krämer GP2-R.)
Fotos: Benny Kätzmer
6. Tipps von Strecken-Erfahrenen: Worauf sollte ich achten?
Wenn sich die Möglichkeit ergibt, ist es natürlich nie schlecht, mit jemandem zu sprechen, der die jeweilige Rennstrecke bereits kennt. Aus der Erfahrung heraus können solche Personen einem Tipps geben zu schwierigen Stellen. Wo beispielsweise sind Bodenwellen, typische Stellen, an denen Strecken-Neulinge sich oft verschätzen? Lerne aus den Erfahrungen anderer – das kann am Anfang nie schaden, bevor du dann endlich deine eigenen Erfahrungen auf der Strecke machen darfst. :-)
7. Trackwalk vor dem ersten Turn
Wenn immer möglich, versuche ich, am Vorabend zum Trackday oder teilweise am Morgen vor dem Fahrerbriefing, die Strecke abzulaufen. Alleine, mit einem erfahrenen Profi, Instruktor – wie auch immer, hauptsache, ich habe die Strecke vor dem ersten Turn mal live gesehen. Ich suche die Blickpunkte, die ich allenfalls bereits in Videos gesehen habe, rufe meine "theoretischen Einschätzungen" ab und vergleiche sie mit dem, was ich nun live sehe. Zudem ist ein Trackwalk auch nie schlecht, um Höhenunterschiede nochmals anders einschätzen zu können, die Beschaffenheit von Asphalt und Curbs zu verstehen und sich so mit einem klaren Bild im Kopf aufs Motorrad zu setzen.
8. Der erste Turn: Werfe alles in die Tonne, was ich vorher gesagt habe
...nein, mach das bitte nicht. Natürlich nicht. Aber das ist jeweils mein Gedanke, wenn ich nach der ganzen Vorbereitung die ersten Runden auf dem Motorrad gedreht habe. Ja, mit zunehmender Struktur in meiner Vorbereitung haben sich die Turns, in denen ich das Gefühl habe, dass ich ja gar nicht Motorradfahren kann, von vier auf zwei reduziert. Teilweise bin ich sogar bereits im zweiten Turn ganz happy mit meinem Fahrstil. Aber mindestens der erste Turn ist tatsächlich für den Müll.
Dennoch, oder gerade deshalb, versuche ich, mich während den ersten Runden locker aufs Motorrad zu setzen, meine theoretische Linie zu verifizieren, meine Blickpunkte aus Motorradsicht wiederzufinden und damit klarzukommen, dass auf dem Motorrad eben alles schneller geht, ich keine Onboardvideo-Pausentaste habe und die Linie nicht wie auf dem Papier ausradieren und neu zeichnen kann. ;-)
9. Rückblick nach dem ersten Halbtag
Ich selber brauche meistens 2-3 Turns, bis sich bei mir tatsächlich die ersten Fragen zur Strecke auftun. Bis ich verstehe, welche Streckenteile ich eben nicht verstehe – wenn ich an diesem Punkt bin, erst dann fange ich effektiv an, auf der Strecke an mir, meinem Fahrstil, der Linie und teilweise auch am Motorrad zu arbeiten. Aber das gehört in ein anderes Kapitel... :-)
Okay, ein Bisschen Leid tut's mir schon, dass dieser Beitrag nun so lang geworden ist. Aber ist nunmal keine Sache von 5 Minuten, eine Strecke im Detail zu lernen, wenn man schon vor dem Trackday auch nur ansatzweise wissen möchte, wo ich den imaginären Blinker zum Einlenken setzen muss.
Trotzdem danke fürs Lesen – und über Fragen, Ergänzungen, Inputs und (konstruktive) Kritik freue ich mich natürlich!
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